Und plötzlich wird es still in der Welt - Corona Phänomene Teil 1



English version see Blog Almut´s Anecdotes 😊http://almutsanecdotesenglish.blogspot.com/. Oder die Geschichte, wie der fehlende Grund die Mobilität des Menschen einschneidend verändert. 

"Wann werden wir mal etwas geschichtsträchtiges Erleben, das die Generationen danach im Unterricht behandeln werden?" Das fragte mich letztes Jahr noch einer meiner Söhne. Heute würde ich definitiv sagen: „Wir sind gerade mittendrin“. Die Covid-19 "Corona"krise beginnt nach Asien nun scheinbar Europa in den Würgegriff zu nehmen und stellt die bestehende Gesellschaft auf den Prüfstand.
19.03.2020, 18:15 Uhr Bismarckstraße, Darmstadt


Heute, Dienstag 17. März 2020: Als ich heute durch die halbleere Innenstadt von Darmstadt mit leeren Cafés geradelt bin, kam mir die Idee, diese Eindrücke der letzten Zeit niederzuschreiben, da ich schon damals in der Schule tagesaktuelle Erlebnisse von Zeitzeugen in Geschichte spannender als Monate später verfasste Zusammenfassungen fand.

17.03.2020, 11:45 Uhr Darmstadt, Rheinstraße, eine der zentralen Hauptstraßen in Darmstadt,
normalerweise voll mit Verkehr um diese Tageszeit

Es fühlt sich widersprüchlich an: das schöne Wetter, die Kinder, die zuhause sind, die halbleeren Straßen, ein Gefühl wie in den Sommerferien – eigentlich. Andererseits fühlt es sich irgendwie mulmig an, wenn man weiß, warum alles leer steht. Mir erzählten Rückkehrer aus Österreich, dass die Skipisten total leer waren, man das im Normalfall wohl genießen würde, sie jedoch den Urlaub – obwohl nicht in Tirol – abgebrochen haben, weil es gespenstisch sei und irgendwie kein Spaß mache, jeden Moment damit rechnen zu müssen, nicht mehr aus dem Ort heraus zu kommen, wenn die Ereignisse sich überschlagen. Es fühlt sich wie in einem Fictionthriller an. Zuerst nimmt keiner die Gefahr hier besonders ernst, da es am anderen Ende der Welt geschieht, China ist weit weg. Aha, ein neuer Virus, es reiht sich in die Folge der Schweinegrippe und Vogelpestepedemie ein, die wir als normale Bürger ohne große Einschränkungen bereits mitbekommen haben. Sonst würde jemand die Flüge nach China sofort stoppen, wenn der Virus so schlimm wäre.

Als im Fernsehen die dramatische Entwicklung mit der Abriegelung der Millionenstädte in China zu sehen ist und die erste chinesische Geschäftsfrau in einem Meeting in Starnberg den ersten Deutschen infiziert hat, glauben wir hier immer noch nicht, dass es uns in Deutschland so stark erwischen würde. Einige der Nachrichtensprecher schalten von „Schönen Abend noch“ auf „Bleiben Sie gesund“ um. Die Zeit mit den Fastnachtsumzügen vor uns, entscheide ich mich persönlich, für meinen jährlichen Fastnachtsfilm sicherheitshalber einen der ersten Umzüge im Schwarzwald Anfang Februar auszuwählen mit dem Hintergedanken, dass in den Bahnen der Virus noch nicht so verbreitet sein wird als mitten in der Hochzeit an den Fastnachtstagen selbst ( für Interessierte: ist unter meinem Kanal Sommeradler in Youtube zu sehen). Erste Hygienestandards sieht man schon bei den Narrenzünften (Bezeichnung für die Fastnachtsvereine in der schwäbisch-alemannischen Fasnet). Jeder trägt seinen eigenen Becher am „Häs“(Bezeichnung für Kostüm).

Italien rückt mit den ersten Corona-Fällen in den Fokus der Medien, ich wundere mich noch, dass die anstehenden Fastnachtsgroßveranstaltungen nicht abgesagt werden, obwohl in der Gemeinde Heinsberg in Nordrhein-Westfalen sich durch eine Ehepaar sehr viele Menschen während einer Fastnachtssitzung infiziert haben und auch Kindergärten geschlossen wurden, und sich damit 356 Fälle zwei Wochen in Quarantäne sich befanden. Es heißt, man wolle keine Panik verbreiten. Isolation, die mit Quarantäne gleichgesetzt wird, hat einen negativen ersten Eindruck. Man assoziiert damit Wörter wie Isolationshaft. Die Jüngeren im Büro fragen, ob wir Älteren (Jahrgänge vor 1980) in der Vergangenheit etwas Ähnliches erlebt haben, eine Gefahr, die nicht greifbar und sichtbar ist. Ja, das gab es: mit dem Auftreten der ersten AIDS Fälle, den Smogtagen und der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. 

Zu diesen Zeiten kamen auch die unterschiedlichsten Empfehlungen und Anweisungen verbunden mit einer enormen Unsicherheit, ob man dies oder jenes noch essen oder tun darf ohne sich langfristig zu schaden. Allein die Einschränkung kein frisches Gemüse mehr essen zu dürfen (Pilze "strahlen" heute wohl immer noch in Teilen)  in den ersten Wochen nach dem Reaktorunglück und sich nicht auf den Rasen zu setzen oder länger im Freien aufzuhalten, das war ein sehr unangenehmes Gefühl. Mit einem entscheidenden Unterschied: die Informationen erhielten wir ohne Internet und Handy, nur via Zeitung, Radio, Fernsehen und Mundpropaganda. In der jetzigen Zeit gehen die Informationen und Meinungen in einer viel schnelleren Zeit komplett um den ganzen Globus – zum Vorteil und zum Nachteil, wenn es sich um Falschmeldungen oder Verschwörungstheorien handelt. Trau, schau, wem.

Zurück zum heutigen Tag: es sind frühlingshafte 16 Grad, trotzdem sind in der Innenstadt nur sehr wenig Menschen unterwegs. Nur an der Eisdiele und den Haltestellen sind mehrere Menschen auf einmal zu sehen. Die Cafes sind meistens komplett leer. 

Darmstadt, Herrengartencafé, Dienstag, 17. März 2020, 14.30 Uhr


Letzte Woche hatten die Bundesländer beschlossen die Schulen und Kindergärten komplett schließen zu lassen und nur Sonderbetreuung für die Kinder von Eltern von bestimmten unabkömmlichen Berufen anzubieten. Während ich in der Stadt unterwegs bin, begegnen mir gefühlt sechsmal Streifenwagen. Polizei auf fast leeren Straßen wirken gespenstisch.

Darmstadt, Schulhof Eleonorenschule, 17. März 2020, 13 Uhr
 normalerweise voller Schüler, die nach Hause gehen, heute bis auf Weiteres leer


Die Grenzen zu einigen Nachbarstaaten wurden komplett geschlossen und lassen nur noch Warenlieferungen und Berufstätige passieren. Gestern hatte die Bundesregierung angekündigt, alle nicht lebenswichtigen Geschäfte in Kürze schließen zu lassen und die Restaurantöffnungszeiten einzuschränken. Mit der aktuellen Ausgangssperre in Österreich vor Augen ist jeder gespannt, ob das Schließen der Läden in Deutschland ausreichen wird, da sich viele Leute daran nicht halten. Vielleicht auch die Ausgangssperre kommt. Die Sterberate in Italien schnellt in die Höhe. Trump redet von „Wir sind im Krieg.“ Mir fällt ein, dass einige schon diskutiert haben, ob die Bundeswehr wie bei Hochwasser im Notfall anrücken wird, wenn z.B. Lastwagenfahrer erkranken und notwendige Lieferungen nicht mehr aufrechterhalten werden können. In meinem Umkreis haben einige bereits eine Erkältung gehabt, einige Verdachtsfälle wurden getestet. Im Büro kamen immer mehr Mails, wie man sich verhalten sollte, eine Taskforce wurde gegründet, die Fragen beantwortet.

Darmstadt, Liebigstraße, 17. März 2020 11:40 Uhr


Als die Dienstreisen schon seit Anfang Februar nacheinander abgesagt wurden, die Anzahl der „Risikoländer“ sich immer weiter erhöhte, immer mehr im Homeoffice unter Quarantäne für zwei Wochen arbeiten mussten, schlich sich in uns allen der Gedanke ein: kommt hier in der Firma irgendwann ein Shutdown? Wie können wir die Geschäftsfähigkeit aufrechterhalten? Gerüchte gehen um: es gibt einen Verdachtsfall, der getestet wird….im anderen Gebäude. Am nächsten Tag heißt es: Entwarnung. Alle scheinen zu warten: wann kommt er, der erste positiv getestete Mitarbeiter in meinem eigenen Bekannten/Kollegenkreis?. Können wir die abgesagten Geschäftsevents in den Juni schieben oder ist es da noch unsicher ob die Veranstaltungssperre aufgehoben sein wird? Unser Abteilungsleiter entscheidet vorletzte Woche, dass wir uns im Büro abwechseln sollen, wo möglich, nur die Hälfte der Mannschaft ist präsent, der Rest arbeitet zuhause, damit im Worstcase einer Infektion eine Hälfte den Betrieb noch aufrecht erhalten kann. Das Gesicht meines obersten Chefs werde ich nie vergessen, wie er gestern plötzlich ins Büro mit seinem Handy reinkommt – ich war bereits schon alleine und die anderen zuhause arbeitend: „Ist es wirklich schon so schlimm? Hast du schon was mitbekommen in Richtung shutdown, das, was die Bundesregierung eben entschieden hat?“ Resultat: zusammen mit der Schulschließung bleiben nun wirklich alle homeofficefähigen Mitarbeiter zuhause, auch ich. „Bis auf Weiteres…“, ein Kollege rief mir winkend zu (das Händeschütteln haben wir uns schon längere Zeit abgewöhnt):“ Mal sehen, wann wir uns wiedersehen.“  - Fühlt sich irgendwie irreal an: wir in dieser hochindustrialisierten Gesellschaft ergreifen Maßnahmen, die sonst nur in Kinofilmen in Katastrophen- oder Kriesgsszenarien vorkommen. Grenzschließungen mit Kontrollen, plötzlich sind die Grenzbäume nicht ausgedient.

Obwohl der partielle Shutdown erst morgen oder übermorgen greifen wird, ist schon heute Darmstadt so leer wie sonst nie um diese Zeit. Ältere Leute sehe ich so gut wie gar nicht während ich mit dem Rad die 4km in die Stadt zum Zahnarzt radel. Die Empfehlung zuhause zu bleiben, haben viele ernst genommen. Das Lied „Allein, allein“ von Polarkreis 18 von 2009 kommt mir in den Sinn.

Mir fällt auf, dass die Luft aufgrund des fehlenden normalen Verkehrs an den Hauptstraßen hervorragend ist. Überall zwitschern die Vögel und das in der Großstadt. Beim Zahnarzt hängt ein großes Warnschild, dass man mit grippalen Symptomen die Praxis nicht betreten soll. Es sitzt niemand im Wartezimmer, es ist alles so ungewohnt ruhig, als ob man sich in einem Wellnesshotel befindet. Kein Bohren zu hören. Der Patient vor mir verlässt die Praxis. Im Hintergrund höre ich, wie im Radio die Meldung in der hessischen Regierung mit Empfehlung der Reduzierung der sozialen Kontakte kommt. In der Zeitung lese ich heute morgen, dass die meisten Älteren, die noch die Vertreibung und Krieg erlebt haben, keine Angst vor dem Virus hätten. Der Anblick von leeren Regalen würde sie nicht schockieren, das kennen sie noch von früher nach dem Krieg oder aus der DDR. Man kauft eben das, was es eben gerade gibt und man wird erfinderisch. In der Begrenzung der Möglichkeiten entstehen manchmal die besten Ideen.


1 Monat vor der gesetzlichen Einschränkung,
20. Februar 2020, Wismar Restaurant "Alter Schwede", noch gibt einige Besucher

Idee auch für Kinder: aus aussortierten Zeitschriften und Werbeblättern
 Bilder ausschneiden und zu Collagen kleben

...dann kann so etwas dabei herauskommen :-)..

Ich frage mich, über was die Journalisten im Sportteil schreiben werden, wenn jetzt alle Sportveranstaltungen untersagt worden sind. Der Kulturteil mit fehlenden Veröffentlichungen. Vielleicht gibt es dafür neue Quellen für virtuelle Kultur, die eine neue Blütezeit erleben wird. Aha, Amazon stellt Tausende von neuen Mitarbeitern an, da die Leute nicht mehr rauskönnen, der Versandhandel jedoch noch möglich sein wird. Die Spargelbauern bei uns in der Umgebung suchen händeringend nach Saisonarbeitern, da bis jetzt nur ein Teil durch den Virus abgedeckt ist und neue Leute zeitintensiv in der Technik angelernt werden müssten und außerdem viele diese körperlich sehr anstrengende Arbeit nicht durchhalten würden. Schüler bieten sich für die leichteren Arbeiten an. Das erinnert mich an die Kriegsgeschichten der inzwischen verstorbenen Verwandten, die erzählt hatten, dass sie in Schulklassen auf Kartoffeläckern den Kartoffelkäfer absammeln mussten.


geschlossene Spielplätze in Darmstadt


Ich erfahre, dass die Krankenkassen seit heute keinen persönlichen Kontakt mehr erlauben, die Anträge für Kronen können nur noch eingeworfen oder per Post geschickt werden. Wir lernen Geduld. Ich bin schon sehr froh, dass der Zahnarzt nicht selbst krank ist und praktizieren kann. 

Darmstadt ist mit der Technischen Universität und Hochschule eine große Studentenstadt. Studenten sehe ich nur vereinzelt, die Vorlesungen wurden bereits untersagt. Ich kann mir vorstellen, dass sich eine Ausgangssperre in engen WGzimmern ohne Balkon nicht gut anfühlen würde und viele in ihre Heimatorte zurückgekehrt sind. Deutsche Urlauber, die aufgrund der ausgefallenen Flüge oder anderen Einschränkungen im Ausland festsitzen, werden mit Sondermaschinen nach Deutschland zurückgeholt. Das erinnert mich ein wenig an die biblische Weihnachtsgeschichte, in der alle aufgerufen wurden an ihren Geburtsort zur Zählung zurückzukehren. 

Die Dynamik der vielen Meldungen ist enorm, alle Leute hier in Deutschland haben ein verbindendes Thema, die einen skeptisch, die anderen optimistisch, weil sie so jung sind, dass es sie wohl nicht oder mit geringen Symptomen erwischen wird, ein anderer Teil lässt sich mit allen Nachrichten berieseln. Ich frage mich persönlich, wie man wohl schlafen geht, wenn man sich den ganzen Tag mit allen möglichen Horrorszenarien beschäftigt hat. Irgendwo muss das auch verarbeitet werden. Ich beschränke mich auf einmal im Tag, den Rest bekomm ich vom Familienkreis und Bekannten am Telefon mit. Vielleicht kommen wir wieder in das „nicht schon wieder das Thema“ Gefühl, wenn die Journalisten über Monate von nichts mehr anderem berichten, ähnlich wie bei der Griechenlandkrise oder dem Brexit.

Da ich in einer großen Familie mit Haus und Garten wohne, geht es mir noch sehr gut, auch wenn die komplette Ausgangssperre kommen würde. Ich denke da eher an die Menschen, die in Wohnungen ohne Balkon wohnen und im Quarantänefall gar nicht raus könnten. Und die ganzen Menschen, die alleine wohnen und nicht die Möglichkeit des virtuellen Austausches haben. Wir dürfen lernen uns selbst auszuhalten, werden an einigen neuen Gewohnheiten und Situationen an Grenzen stoßen werden. Andererseits fangen Menschen in Notsituationen an sehr kreative Ideen zu bekommen: man gibt „Italiener singen Quarantäne“ in Youtube ein und sieht dort, wie dort einige der Millionen von Italienern, über die die Ausgangssperre immer noch verhängt ist, von ihren Fenstern aus zusammen singen. Not und Krisen rufen sichtlich auch Hilfsbereitschaft hervor, hier bei uns in der Nachbarschaft gibt es inzwischen schon einige Leute, die sich bereit erklären Gassi mit dem Hund zu gehen, falls jemand unter Quarantäne steht und nicht vor die Tür gehen darf.

Und jetzt kommen sie, die Chancen dieser Krise: ich bin mir sicher, dass die Lieferketten neu überdacht werden, ob die Produkte nur aufgrund der Personalkosten rund um den Globus hin und hergeschickt werden. Ob Konsumenten bereit sind, mehr für ein Produkt zu bezahlen, das in Europa produziert wird.

Wir dürfen als gewohnt „All Inclusive“ Gesellschaft auch mal erfahren, wie es sich mit Einschränkungen lebt. Viele Abenteurer erzählen von ihren Reisen, dass allein sauberes Wasser aus dem Hahn zu bekommen reiner Luxus ist. Erst in eine solchen Situation wird uns das bewusst, was wir wirklich brauchen. Ähnlich wie bei einer Wanderung oder beim Camping: dort nehmen wir nur das Allernotwendigste mit. Und sind trotzdem zufrieden, weil wir feststellen: so viel braucht der Mensch eigentlich gar nicht.


Wasserturm, Bismarckstraße Darmstadt 

Die soziale Einschränkung, der fehlende Körperkontakt zu anderen, ja, das ist schwer. Ich erwischte mich selbst, wie oft ich am Anfang die Hand entgegenstreckte, wenn ich jemand sah. Eigentlich schade. Ein Glück, dass die digitale Welt die Videokonferenzfunktion ermöglicht, das lindert das Gefühl „abgeschottet“ zu sein.

Interessanterweise habe ich einen besonderen Effekt der Reduzierung neulich erfahren. Das zur Ruhe kommen. Normalerweise drehe ich auf der Luminale in Frankfurt mit über 200 Veranstaltungen alle zwei Jahre zwei bis drei Lichteffektshows, schneide diese für den Youtubekanal. Neben meiner normalen Arbeit möglichst zeitnah den Film zu schneiden kostet viel Zeit und Energie, ein ziemlicher Druck. Eine Mischung aus Neugier, Freude am Visuellen und Teilen motiviert mich normalerweise dazu. Dieses Jahr war es anders. Nachdem die Veranstaltungen in den Innenräumen aufgrund von Corona schon abgesagt wurden, suchte ich mir die Außenveranstaltung aus, von der ich wusste, dass die Menschen nicht ganz so geballt davor stehen würden, ich würde nicht mit der S-Bahn fahren, sondern , ganz unüblich für mich, ausnahmsweise das Auto nehmen und den Rest zu Fuß in die Stadt laufen. Die Absage für die Luminale erhielt ich von Leuten, die am Puls der Zeit einen Nachrichtenticker für die neuesten Nachrichten auf ihrem Handy besitzen und nur 6 Stunden vor Beginn der Großveranstaltungen diese Nachricht der Absage erhielten. Am Anfang hielt ich eine solche Funktion für sensationslüstern, ständig auf dem aktuellen Stand sein zu wollen. In diesem Fall hat es mich davor bewahrt, unnötig nach Frankfurt reinzufahren. Schade, dachte ich einerseits, um die Veranstalter und die viele Zeit, die über ein Jahr bereits investiert wurde und dann diese sehr sehr kurzfristige Absage…..Und welche Kosten damit verbunden sein müssen.

Bis plötzlich die Enttäuschung einem anderen Gefühl wich: „Jetzt hast du mehr Zeit und brauchst dich nicht hetzen.“ Auch die anderen Events und sozialen Treffen der letzten Tage, die abgesagt wurden, schaffen mehr Raum darüber nachzudenken, „was wollte ich denn hier im Haus eigentlich immer schon mal machen?“. Welche Dinge schiebe ich vor lauter Beschäftigung außerhalb vor mir her? Ausmisten vom Keller…. wenn die größeren Kinder aus- oder umziehen, bleibt immer das ein oder andere übrig, soll das für die Kleineren noch aufgehoben werden oder kann das weg. Die vielen „kann ich eventuell noch gebrauchen“ Kleinteile, die ein kreativer Mensch wie ich gerne mal in Kisten reinwirft. Und mit dem Ausmisten wieder neue Ideen entstehen werden, die ich teilen kann.

Wie werden wir damit zurechtkommen, ein Ausnahmezustand von Angst vor Ausgangssperre und Lieferkettenunterbrechung, die drohen könnte mit all den Hamsterkäufen von Toilettenpapier und Nudeln hier in Deutschland – wir haben persönlich nicht gehamstert und standen vor einem leeren Regal – die äußerlichen Beschränkungen, die immer mehr zunehmen? Werden wir uns auf den Keks gehen in der Familie, wenn wir alle im Homeoffice arbeiten? Werden die Server die zusätzlichen Homeofficezugriffe bewältigen können? Wir sind gewohnt, Abwechslung zu haben. Fühlt man sich dann eingesperrt, beschränkt? Oder wird uns die berühmte innere Leere überkommen? Es fällt mir ein weiteres Lied aus der Schulzeit ein:“Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten, kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen…“. Trotz aller äußerlichen Beschränkungen ist der Mensch innerlich frei. 
Weidende Schafe, Lärmschutzwall Arheilgen an der B3, 17. März 2020, 18:10 Uhr


Er hat nun die Möglichkeit durch den Wegfall des Korsetts der Verpflichtungen aus seinem Hamsterrad zu schauen, welchen Sinn und Werte er verfolgt, interessante Aspekte seines anderen Gefühlsspektrums kennenzulernen. Er darf lernen sich selbst auszuhalten. Er hat die Möglichkeit mal wieder ein Buch zu lesen oder sich einem Thema zu widmen, für das er bis jetzt sich nie die Zeit genommen hat. Es ist meine persönliche Annahme, dass besonders für die Perfektionisten die nächste Zeit sehr schwierig werden wird, da das Wertschätzen in der Arbeit und Gesellschaft wegfällt und nun der Fokus auf sich selbst oder auf die Familie fällt. Alle dürfen sich fragen, was macht eigentlich wirklich Sinn für mich, was will ich in Zukunft ändern. Wir haben die Chance genau hinzuschauen, von was wir uns beeinflussen lassen, was schaue ich mir den ganzen Tag eigentlich an oder lasse ich mich von einem Filmchen in Youtube zum nächsten treiben und ablenken von meinen eigentlichen Zielen. Was wäre denn mein perfekter Monat, was würde ich wie viel jeden Tag den am liebsten machen, auf der Arbeit, in der Familie, in der Freizeit. Das Schlüsselwort hierfür: Selbstreflektion. 

Wer lieber aktiv ist, darf auch gerne ausmisten bei sich zuhause. Es gibt sicherlich bei jedem eine Ecke, Schublade oder Raum die als „Zwischenlager“gedient haben. Anrufen kann man auch noch, d.h. eine Isolationshaft wie im Gefängnis ist es nicht. Ich hatte schon mehrere sehr intensive tiefgehende Telefongespräche, die nur aufgrund der „mehr“ Zeit zuhause möglich waren. Viele Entscheidungen treffe ich schon seit längerem mit dem Filter:“Davon stirbt keiner, wenn ich das jetzt nicht mache oder absage.“ Das Grenzen setzen fällt leichter.

Für uns persönlich war der letzte Sonntag ein Ahaerlebnis: wir haben lange nicht mehr so viele Menschen auf den Straßen, Feldern und Wald spazieren gehen sehen. Die Luft so toll wie nie, die Ruhe eine Wohltat, da wir normalerweise den startenden Flugzeugen mit dem verbundenen Fluglärm vom Frankfurter Flughafen ausgesetzt sind. Darmstadt hat eine der höchsten Schadstoffemissionen in Deutschland mit teilweise gesperrten Straßen für Dieselmotoren der älteren Bauart. In Tagen wie diesen wird sich dieser Wert so verbessern, dass wir bald Kurstadt werden könnten. Man erzählt, dass der Smog in Wuhan nach den ersten Wochen der Schließung schon nicht mehr vorhanden sei bzw. zum ersten Mal sichtbar aus dem All, ein besseres Beispiel für mehr Maßnahmen im Rahmen der Änderung der Mobilität der Menschen gibt es nicht. Die Natur blüht auf, der Mensch kommt zur Ruhe, solange er nicht zu der Krankheit bezogenen Menschen gehört, die im Dauereinsatz sind oder zu den Menschen, die die Folgeschäden für die Wirtschaft abwenden zu versuchen. Wir können den Menschen nicht genug danken für ihren Einsatz. Das mulmige Gefühl, wann und ob uns das Schicksal von China und Italien auch ereilen wird bleibt. Zu wissen, dass die Intensivbetten nicht reichen könnten und die Menschen, die darunter leiden, ein unwürdiger Tod erwartet ohne Begleitung von Angehörigen in den letzten Minuten wie in Italien, wo inzwischen im Lokalanzeiger L´Eco di Bergamo (Stand 18. März) die Todesanzeigen täglich elf Seiten füllen statt der üblichen ein bis zwei Seiten. Treffend beschreibt es ein deutscher Kollege in Italien:"Hier hoffen alle, das Jammertal bald durchritten zu haben. "

Der Vorstand und die Eigentümer unserer Firma melden sich mit Stellungnahmen zur Lage, sie appellieren, wie wichtig es ist Zuversicht und Ruhe zu bewahren und nicht in Panik zu verfallen, der letzte Satz "Zusammenhalt ist das Gebot der Stunde." schwingt nach.  Die aktuelle Zeit wird in Erinnerung bleiben, nichts verbindet so stark wie eine gemeinsam durchlebte Krise. Nachtrag 18.03.2020: Frau Merkels Rede an die Nation verstärkte diesen Eindruck um ein Weiteres. Allen Beteiligten und Helfern, die das Schlimmste versuchen zu verhindern und Menschenleben retten, sei an dieser Stelle gedankt. Im Hinterkopf erklingt bei mir das "Wir sind ein Volk!" aus den Zeiten des Mauerfalls.

Mit allem Schrecken und Schicksalen mit Tausenden von Toten bietet Corona hoffentlich Chancen, aus denen wir für die Zukunft lernen können. Wir werden vielleicht die ein oder falsche Entscheidungen getroffen haben, jedoch wichtige Erfahrungswerte für die Zukunft sammeln, die in der Theorie einfach nicht durchgespielt werden können. In denen die Entscheider bis jetzt keine Notwendigkeit für mehr Investition gesehen haben. Zulassungen vielleicht beschleunigt werden können, das Klimathema noch mehr an Fahrt aufnimmt. Die Wirtschaft kann neue Hebel entwickeln, um ein solches Ereignis in Zukunft anders stemmen zu können. Erinnern wir uns an den Börsencrash 2007, damals ist fast eine Welt zusammengebrochen. Als die Börse in den letzten zwei Wochen massive Verluste anzeigte, war man eher geneigt zu sagen: „Ok, das kennen wir, da haben wir nun Verluste, die wir einfach durchstehen werden. Nur nicht panisch werden und irgendetwas verkaufen. Das wird sich irgendwann erholen.“ Der Verstand sagt:“Es ist erstmal nur Geld. Die Gesundheit geht vor, wir brauchen Geduld.“ In einigen Jahren werden Begriffe wie „damals in der Coronazeit, in den Coronaferien“ in den Wortschatz eingehen, von denen wir unseren Enkeln noch erzählen können. Keine noch so gute Katastrophenfallübung ist so lehrreich wie ein wirkliches erlebtes Ereignis, auch wenn es eine reine Tragödie ist, wie viele Menschen für diese Erfahrungen sterben müssen. Auch wenn es der Jugend im ein oder anderen Fall schwerfällt zu verstehen, warum die Maßnahme und der Appell an die Vernunft notwendig sind, später werden sie verstehen, was es heißt, der sozialen Gemeinschaft zu dienen, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen.


Darmstadt, Kasinostraße, 17. März 2020, 14:50 Uhr
 eine der Hauptachsen Darmstadts
Wer sie noch nicht kennt - die offizielle Tabelle, die zeigt, warum es notwendig ist den Höhepunkt des Ausbruchs durch Maßnahmen zu verzögern, sodass das Gesundsheitssystem und die darin arbeitenden Menschen nicht überlastet werden und zusammenbrechen:



Und ganz zum Schluss ist mir eben eingefallen, dass vor zwei Wochen doch zwei Menschen in meinem größeren Bekanntenkreis gestorben sind, beide mit Erkrankungen von Demenz bzw. Parkinson, beide über 80. Bei beiden wurde nicht auf Corvid-19 getestet….die Dunkelziffer wird sicherlich noch höher sein. Einer der betroffenen Söhne fragt sich, ob die Beerdigung überhaupt wie geplant stattfinden kann, ohne dass weitere Senioren ernstlich erkranken, es in der Verantwortung des Einzelnen liegt zu dieser Beerdigung zu kommen, sowie die Entscheidung, den Trauernden nicht zu umarmen, weil es die Vernunft gebietet…..eine Herausforderung des Umdenkens für die nächsten Wochen und Monate für uns alle steht an. 


Sonnenuntergang auf dem Lärmschutzwall mit vielen anderen Spaziergängern,
B3 von Richtung Darmstadt nach Langen bei Arheilgen, 17. März 2020, 18:22 Uhr


Wie viele anderen aus unserem Stadtteil habe ich eben noch den Sonnenuntergang auf dem Lärmschutzwall (von Lärm kann man aktuell buchstäblich nicht mehr reden) beobachtet, natürlich mit Abstand, etliche Familien fahren um diese Zeit mit ihren Kindern noch Fahrrad auf den Wegen in den Feldern und den Wald. Es ist eigentlich ein normaler Werktag und man könnte denken, es wäre ein Feiertag. Vor Corona gab es solche Bilder werktags nicht. 

Wie heißt es in den großen Blockbustern: „und es ist nichts mehr so wie es vorher war.“ 

Irgendwann wird der Tag des Coronaausbruchs als Datum in den zukünftigen Geschichtsbüchern stehen.








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